Blog | Land der Utopie? Alltag in Rojava

Buchrezension von Laura Kischkel | @buchlieberhaberin


Land der Utopie? Alltag in Rojava

Christopher Wimmer (2023)

272 Seiten, Edition Nautilus


Die Regionen Nord- und Ostsyriens, auch Rojava genannt, sind für einige Menschen ein Sehnsuchtsort – eine linke Hoffnung für ein selbstorganisiertes Zusammenleben. Nun, über zehn Jahre nach der Revolution, fragt sich Christopher Wimmer in seinem Buch »Land der Utopie? Alltag in Rojava« wie es den Menschen mittlerweile in diesem Gebiet geht.

Dafür verwendet der Autor nicht nur zahlreiche Interviews, sondern reist auch selbst vor Ort durch Rojava. Der Soziologe und Journalist möchte so einen möglichst getreuen Alltag darstellen. Ebenso wichtig sind ihm die Geschichte sowie der Aufbau dieser Region – samt ihrer gelungenen und weniger gelungenen Umsetzungen.

Nach der Rojava-Revolution 2012 gründete sich eine autonome Selbstverwaltung. In Kommunen wird ehrenamtlich in Räten über Lösungen und Veränderungen diskutiert. Die Organisation durch Ehrenämter lässt keinen Platz für politische Karrieren und verhindert Korruption. Basisdemokratisch wird an Geschlechtergerechtigkeit und an einer eigenen Ökonomie gearbeitet. Durch diese Selbstverwaltung haben alle Ethnien gemeinsam einen Gesellschaftsvertrag anstelle einer Verfassung verhandelt.

Doch Wimmers Anliegen ist keine Romantisierung, sondern eine ehrliche Abbildung der Lebenswelt. Schließlich verschwindet patriarchales Denken nicht über Nacht. Auch heute arbeiten Frauen nicht als Taxifahrerinnen oder in Cafés. Eindeutig ist der öffentliche Raum noch von Männern dominiert. Doch auch hier ist der Wille der Gemeinschaft stark – Frauen organisieren sich für sozialen Wandel, gründen Bewegungen und kämpfen für Rechte. Schrittweise erkämpfen sie sich Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Schließlich war ihre Rolle im Gesellschaftsvertrag sogar entscheidend.

Auch außerhalb des gesellschaftlichen Denkens gibt es viele weitere Probleme. Rojava leidet unter Angriffen und Kriegen durch den Islamischen Staat oder das Assad-Regime sowie unter der Klimakrise und wirtschaftlichen Embargos.

Dass Rojava ein Sehnsuchtsort sei, sieht Wimmer aus all diesen Gründen kritisch. Er setzt auf eine vielschichtige Realität, die Erfolge ebenso wie Probleme offenlegt. Fakt ist, dass all dies nicht den Willen der Gemeinschaft bricht. Ganz im Gegenteil ist das Streben nach einem besseren Zusammenleben tief verwurzelt. Eine Utopie, die vielleicht nur bedingt aufgeht, wenngleich sie auch noch nicht am Ziel ist.

Christopher Wimmer hat ein spannendes, ehrliches und vor allem aktuelles Sachbuch geschrieben. Landkarten, Fotografien und verständliche Erklärungen machen das Buch nicht nur für Einsteiger*innen geeignet – auch Fortgeschrittene können durch die sachliche und differenzierte Darstellung sicherlich neue Erkenntnisse gewinnen.