1968 – die unverstandene Weichenstellung. Zwischen Revolte und Reform

Das Jahr '68 ist von Deutungen und Deutern okkupiert. Die politische Kultur der westlichen Demokratien sei revolutioniert, die Abrechnung mit Faschismus und Autoritarismus vollzogen meinen die einen. Dieser Triumph einer neuen politischen Kultur und Lebensweise, einer neuen Sexualität habe die Gesellschaft, ihre Ordnungen und Hierarchien zerstört.
Für den Osten wird anerkannt, dass manche der neuen Protestformen übernommen wurden, aber die große Aufbrechung des Stalinismus durch Moskaus Panzer verhindert wurde. Auch hier wurde ein Bewusstseinsbruch ausgemacht, der an manchen Stellen aber erst Jahrzehnte später wirkte und gegen den sozialistische Utopie und Wirklichkeit sich richtete.
Aber das Phänomen 1968 sei erledigt, die Akteure erwachsen und geläutert worden. Der Osten – in welchen Formen er einst auch begeisterte – ist als Staatssozialismus gescheitert, die westliche Linke, auch die Neue durch die deutschen Herbst 1977 und vergleichbare Terroristenwege desavouiert. Bestenfalls taugt das Jahr 68 zur Erinnerung und eigentlich zur Abschreckung, wohin auch im westen Utopien führen können – in Gewalt und Terror. Im Osten kannte man es seit 1917 ja sowieso nicht anders. Also gilt es, die Erinnerung an dieses Jahr und seine Nah- wie Fernwirkungen zu historisieren, vielleicht zu verklären oder zu dämonisieren. Oder kann dieses Jahr für emanzipatorische Ansätze neu begutachtet werden? Muss genauer nach Ursachen und Wirkungen gefragt, gesucht werden und könnte sich herausstellen, dass die Beobachtungen über die kulturellen Brüche, die Entkrampfung der westlichen
Gesellschaften und der verschämte Abschied vom, sozialistischen Ideal der Linken und des Ostens nur die Oberfläche tiefer gehender Prozesse waren, die ganz andere, zunächst neoliberale Antworten fanden und ihre emanzipatorische, sozialistische Antwort bislang noch nicht gefunden haben?

Stefan Bollinger 1968 – die unverstandene Weichenstellung
Reihe Rosa-Luxemburg-Stiftung - Texte Bd. 44
Karl Dietz Verlag Berlin 2008
ISBN 978-3-320-02138-2, br., 144 Seiten, 14,90 Euro

Inhalt:
1. Gewinner und Verlierer – die wundersam gemischten Karten: Politisch korrekt trauern? / Zwischen Vergangenheitsbewältigung, Geschichtspolitik und Politikperspektiven / Rebellion – aber wogegen und wofür? / Wider die westdeutsche Nabelschau/Vom Zusammentreffen des Wandels West und Ost/ Periodisierungen, Komplexitäten, Chiffren und eine Umbruchszeit 1960 bis 1989
2. An der Schwelle einer neuen Zivilisation: Zeiten der Suche nach ideologischem Halt / Georg Lukács – nicht nur 1968 ein Denker für Ost und West / Lukács und die modernen "Maschinenstürmer" / Demokratisierung als Parole? / Ein Soziologe fast auf der Barrikade
3. Sozialismusreformen zwischen Effizienz, Demokratisierung und Repression: Der verkürzte Westblick auf den Osten / Zum Charakter der neuen Herausforderung / Technokratische oder politische Reform? / Sozialismusverständnis und intellektuelle Chancen
4. 1968 – Revolten und Reformen am Ende alter Welten – Chancen und Scheitern: Die 68er sind an allem schuld / Das Ausblenden der östlichen Reformen / Die Tiefe eines Bruchs / Der Wandel in der Systemauseinandersetzung / Die Vielfalt von Revolte und Reform / 1968 – Radikaler Bruch und die Erbschaften / Geschichtspolitik in Zeiten des Endes der Geschichte
5. Unbekannte, ausgeschlagene, missbrauchte Erbschaften: Im Schaltjahr / Von langen Märschen
und vertanen Chancen / Unverstandene Weichenstellungen / Leistungen und Grenzen / Die Utopie verwirklichen, den Sozialismus