24. Juni 2022 Diskussion/Vortrag Der Antiziganismus der „sauberen Deutschen“

Zur Aktualität des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen

Information

Veranstaltungsort

Rostock, Cafe Median
Niklotstr. 5
18057 Rostock

Zeit

24.06.2022, 19:00 - 21:00 Uhr

Themenbereiche

Neonazismus / Rassismus

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Der Antiziganismus der „sauberen Deutschen“

Unter Parolen wie „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ belagerte im August 1992 ein
Bündnis aus Rostocker Anwohner*innen und eigens zu diesem Anlass angereisten Nazis die
Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen (ZASt) und das Wohnheim vietnamesischer
Vertragsarbeiter*innen. Mehr als hundert Vietnames*innen und antifaschistische
Unterstützer*innen entgingen dem Tod in dem brennenden Haus nur knapp.
Über die immense Bedeutung des Pogroms von Lichtenhagen für den Rassismus des
wiedervereinten Deutschlands ist man sich – zumindest in der gesellschaftlichen Linken – im
Grunde genommen einig. Dass jene Ausschreitungen jedoch vor allem das Ergebnis der
antiziganistischen Gerüchte und Ressentiments waren, mit denen Politik und Medien bereits seit
1990 gegen asylsuchende Rumän*innen hetzten und die Debatte über den „Asylkompromiss“
befeuerten, ist weitestgehend unbekannt.
Bereits 1990 wusste man in Zeitungsartikeln und Leserbriefen genauestens zu berichten, wie
diejenigen, denen unter der rassistischen Fremdbezeichnung ‚Zigeuner‘ ein kollektives So-Sein
zugeschrieben wurde, so seien: In einem Artikel hieß es gar, sie hätten die durch Steuergelder
finanzierten Möbel der ZASt auf dem Balkon aufgetürmt, daraus ein Lagerfeuer gemacht und eine
Möwe gegrillt. Ihnen wurde alles angelastet: Die schlechte Obsternte, das tote Schaf, das im Wald
gefunden wurde, jeder Diebstahl im Supermarkt, selbst das flaue Gefühl im Magen, wenn man auf
dem Weg zur Arbeit an bettelnden Kindern vorbeigehen musste. Es herrschte Einigkeit in Politik,
Medien und unter den Anwohner*innen: Die Asylbewerber*innen aus Osteuropa sollten weg.
Auf der Grundlage einer Auswertung von über 600 Lokalzeitungsartikeln widmet sich der Vortrag
einerseits einer sozialpsychologischen Untersuchung jenes Antiziganismus, der die
Asylbewerber*innen kollektiv zur Negativfolie der fleißigen und sauberen Deutschen machte.
Andererseits soll das Pogrom als konformistisches und massenpsychologisches Phänomen
gedeutet werden, hinter dem sich der Wunsch verbarg, endlich wieder richtig deutsch sein zu
dürfen.
Die Frage, weshalb die antiziganistischen Dimensionen des Pogroms nahezu völlig unbekannt
sind, führt uns auch zur Diskussion der brennenden Aktualität antiziganistischer Zustände. Denn
während in Deutschland in Anbetracht der EU-Freizügigkeit über eine vermeintliche
"Einwanderung in die Sozialsysteme" und "Sozialschmarotzertum" sinniert wird und sich in
Städten wie Berlin, Duisburg oder Halle Bürgerinitiativen gegen vermeintliche "Problemhäuser"
gründen, ist eines klar: Sowohl die Gewaltbereitschaft des Antiziganismus als auch die Ignoranz
gegenüber dieser findet sich nicht nur am rechten Rand, sie ist in der Mitte fest verankert.

Merle Stöver ist Sozialarbeiterin und Antisemitismusforscherin. Zu ihren wissenschaftlichen und
politischen Schwerpunkten.

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